Man nennt ihn den Drachenpapst

Man nennt ihn den Drachenpapst

Veröffentlicht von , 11. November 2013

Claus Gerhard

Am 13. Oktober feierte Professor Michael Schönherr seinen 70. Geburtstag – Anlass für eine Würdigung des Mannes, der als genialer Ingenieur und Forscher wegweisend an der Entwicklung und Verbesserung der Drachenflugsicherheit beteiligt war.

web02 Vor 30 Jahren kannte ihn jeder Drachenflieger. Michael Schönherr war der Mann mit dem Messwagen für Hängegleiter, der die Aerodynamik der flexiblen Flügel durchschaute wie kein Zweiter. Bekannt wurde der schwäbische Luftfahrt-Ingenieur durch die Erforschung und Lösung des Flattersturzproblems, das heutige Piloten nur noch vom Hörensagen kennen. Seine grundlegenden wissen-schaftlichen Arbeiten zum Pitch-Verhalten und zum Tuck (Vorwärtsüberschlag) fanden ebenfalls weltweite Beachtung. Mittlerweile ist es still geworden um den deutschen „Drachenpapst“.

Vom Flugmodellbau und Segelflug kommend begann seine Drachenflug-Karriere eher unspektakulär, wenn man davon absieht, dass Drachenfliegen vor 40 Jahren an sich höchst spektakulär war. Mike Harkers Gleitflug von einer Skischanze in Bayern (noch vor seinem medienwirksamen Zugspitzflug) hatte dafür gesorgt, dass sich ein paar Wagemutige zum Skifliegen in der Schweiz einfanden. Michael Schönherr war auch dabei, allerdings lernte er den Fußstart erst etwas später auf der Schwäbischen Alb kennen. 1975 gehörte er zu den Teilnehmern der ersten inoffiziellen Drachenflugweltmeisterschaft in Kössen. Von seinem ersten Dauerflug im Hangaufwind unter einem Rogallo mit der Gleitzahl 3 schwärmt er noch heute, obwohl er während der 25 Minuten leicht bekleidet auf einem Holzbrett sitzend fürchterlich fror.

Der Flattersturz – eine tödliche Gefahr

Bald gab es diese geheimnisvollen tödlichen Abstürze, bei denen Piloten mit hoher Geschwindigkeit unter einem laut flatternden Segel im Sturzflug auf den Boden zurasten und einschlugen. Man hielt die Verunglückten zunächst für besonders leichtsinnig, ohne nach den wirklichen Ursachen zu forschen, denn damit hätte man auch Konstruktionsmängel in Betracht ziehen müssen. Michael war damals frisch gebackener Luft- und Raumfahrt-Ingenieur und Technikreferent für Hängegleiter beim Deutschen Aeroclub (DAeC) und machte sich an die Arbeit. Er berechnete als Erster näherungsweise das Segelprofil der Rogallo-Gleiter und fand damit heraus, dass der „Flattersturz“ seine Ursache im fortlaufenden Verlust der starken Schränkung, der „Höhenleitwerksbereiche“ des Rogallo-Flügels hat. Als Lösung schlug er im Februar 1976 in einem Beitrag für das Drachenflieger-Magazin den Schränkungsanschlag vor, mit dem der Tucheinfall im äußeren Segelbereich beim Schnellflug (d. h. bei kleinem Anstellwinkel) zuverlässig verhindert wird. Das Prinzip findet sich heute in jedem Drachen als „Swiveltip“ oder „Sprog“ wieder.

Zu dem Thema erschien Schönherrs viel beachtete Aufsatzreihe mit insgesamt 28 Folgen. Es dauerte jedoch mehrere Jahre, bis sich die Swiveltips weltweit durchsetzten, weil die Hersteller zunächst nicht zugeben wollten, dass ihre Drachen grundsätzlich flattersturzgefährdet waren.

Die ersten Messwagenergebnisse und ein Gütesiegel

Schon 1974 hatte Michael Schönherr Ali Schmid kennen gelernt, einen Drachenhersteller aus dem Stuttgarter Raum, der sich um mehr Sicherheit für seine Geräte bemühte und deshalb 1977 zusammen mit Bernd Schmidtler Drachen von einer Seilbahn abgeworfen hatte. 1978 baute er zusammen mit Paul Kofler einen Testwagen, auf dem das Verhalten der Drachen bei verschiedenen Geschwin-digkeiten und mit variablen Anstellwinkeln untersucht wurde. Michael kaufte einen Commodore-Pet-Computer und entwickelte in monatelanger Arbeit unentgeltlich die Software für die Auswertung der Messfahrten. Vorher waren bereits Messwagenprojekte in der Schweiz und in den USA in Angriff genommen worden, die jedoch an Auswertungsproblemen scheiterten. Auch Schönherr hatte anfangs Mühe, die Sicherheit von Deltaflügeln zuverlässig zu ermitteln, da dies neben technischem Verständnis großer Erfahrung bedarf.

Als es wegen der Differenzen mit dem DAeC 1979 zur Gründung des Deutschen Hängegleiterverbandes (DHV) kam, wechselte das Testwagenteam um Ali Schmid die Fronten und arbeitete fortan für den neuen Verband. Zuvor hatte die Gruppe bereits die Bedingungen für ein DAeC-Gütesiegel erarbeitet, das der DHV übernehmen konnte. Nun standen die Drachenhersteller aus der ganzen Welt beim deutschen Messwagen Schlange, denn alle wollten und sollten flattersturzsichere Geräte bauen. Etwa 1000 Gutachten für Hängegleiter-Gütesiegel hat Michael Schönherr in den folgenden Jahren bis 1990 geschrieben und dabei praktisch alle relevanten Drachentypen, auch Gleitflügel und UL’s untersucht. Dass mit den Tests auch gefährliche Schwächen mancher Pfeilflügel ans Licht kamen, versteht sich von selbst. Spektakuläre Fälle waren zum Beispiel der Flair, der Explorer oder der Fire-bird M1. Weil sich Schönherr damit besonders um die Sicherheit im Drachenflugsport verdient machte, wurde ihm (gemeinsam mit Paul Kofler) 1983 die Albrecht-Schmid-Gedächtnismedaille vom DHV verliehen. Die silberne Dural-Platte trägt die Inschrift: Opfer sollen vermieden werden!

Eigene Drachenentwicklungen

Weitgehend unbekannt geblieben ist dagegen, dass er selbst zwei ungewöhnliche Drachen entworfen und gebaut hat, mit dem Ziel, die Leistungsgrenzen flexibler Hängegleiter zu erweitern. Insbesondere das Entenkonzept faszinierte ihn, weil es eine größere Flügelstreckung, ein verbessertes Profil und eine verringerte Schränkung ohne Sicherheitsverlust erlaubt. 1982 entstand nach vielversprechenden Modellversuchen in der Werkstatt von Ali Schmid ein Entengleiter in Originalgröße, und erste Freiflugtests verliefen zufriedenstellend. Leider verunglückte Ali am 15. September desselben Jahres tödlich, als er mit einem instabilen UL einen Prüfungsflug absolvieren musste. Damit fand das erfolgversprechende Entenprojekt ein jähes Ende.

Den Anlass, die Schlagflügeltechnik am Hängegleiter auszuprobieren, bot Schönherr 1986 der Berblinger-Flugwettbewerb über die Donau, denn auch der Schneider von Ulm hatte 1811 – in Anlehnung an Jakob Degen – die Flügel seines Gleiters mit Blattfedern beweglich gelagert. Zur Vorbereitung auf das Jubiläumsspektakel gelangen dem Schönherr-Team dokumentierte Flügelschläge im Schleppflug und auch einige im bodennahen Freiflug, wohl die ersten, die je ein Hängegleiter ausführte. Nach dem Wettbewerb sollte die Schlagflügelidee weiterentwickelt werden, doch dazu kam es ebenfalls nicht, obwohl das Gerät einen höchst interessanten leistungssteigernden Ansatz bietet. Nach den Jahren im Depot werden beide Projekte nun einen Platz im Museum erhalten und so hoffentlich auf fachkundige Liebhaber treffen, die sich davon zu eigenen Entwürfen inspirieren lassen. Die Unterstützung des Altmeisters wäre ihnen gewiss.

Neue Aufgaben

Das eigene Fliegen hat Michael Schönherr inzwischen aufgegeben. Seinem ursprünglichen Hobby, dem Flugmodellbau, ist er jedoch treu geblieben. Waren es noch 1984 die Nurflügel-Modelle Stromberg 1 und 2, deren Aerodynamik er aufbauend auf den Erkenntnissen von Lippisch, Junkers und Horten beschrieb und optimierte, so perfektionierte er in den letzten Jahren die Luftbildfotografie mit Elektroseglern. Sein Archiv umfasst inzwischen mehr als 100.000 Aufnahmen. Er produziert Luftbildkalender und widmet sich der Luftbildarchäologie. 1997 gelang ihm dabei ein besonderer Erfolg: Er fand den seit 1869 in Vergessenheit geratenen Ort des einzigartigen Waldalgesheimer Fürstengrabes, das als das reichste Keltengrab Deutschlands gilt.
Nach seinem Eintritt in den Ruhestand hat Professor Schönherr begonnen, die zahlreichen Dokumente der letzten 40 Jahre zu ordnen und Teile davon ins Netz zu stellen, sodass sie für Interessierte einsehbar sind. Dem Leser eröffnen sie ungeahnt tiefgründige Einblicke in die Geschichte der modernen Flugdrachen, sie vermitteln aber auch Forschungswissen, das teilweise aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand, mit dem jedoch die Hängegleiterentwicklung neuen Schwung erhalten könnte.